Vorbemerkungen Ziele Verlauf Schlußfolgerungen

Ulrich Bernath
Lernen im Internet :
"A Virtual Seminar for University Faculty and Administrators -
Professional Development in Distance Education"


1. Vorbemerkungen

Der International Council for Distance Education (ICDE) schrieb im Jahre 1995 mit Fördermitteln der U.S. amerikanischen Telefongesellschaft AT&T die ICDE/AT&T "Global Distance Learning Initiative" aus. Durch diese Initiative sollten in einem zweijährigen Förderzeitraum interaktive, die Kommunikationstechnologien nutzende, internationale Fernstudienprojekte bezuschußt werden. Das Förderprogramm zielte auf herausragende Leistungen und Innovationen in der Lehre und in der Weiterbildung sowie auf die Entwicklung von Curricula, auf Fortbildung der Lehrenden und/oder auf Forschung ab. (AT&T Global Distance Learning Initiative, Guidelines and Application Form, 1995)

Weltweit verbindet die Hochschulen seit Mitte der 90er Jahre ein zunehmender politischer und wirtschaftlicher Druck, Veränderungen ihrer Lehre durch den Einsatz elektronischer Medien zu realisieren. Doch nur selten ist es bisher gelungen, ganze Fachbereiche oder Hochschulen an neuen Zielen und Konzepten für die Lehre durch den Einbezug elektronischer Medien zu orientieren.

Tiefgreifende Veränderungsprozesse sind absehbar, und hierauf zielte die "ICDE/AT&T Global Distance Learning Initiative". Drei der insgesamt 15 ausgewählten Projekte sollten dem dringenden Bedarf nach "faculty development", nach Fortbildungsmaßnahmen für Hochschullehrende Rechnung tragen. Eine der drei geförderten Fortbildungsmaßnahmen ist das hier vorzustellende Beispiel eines "virtuellen" Seminars für Hochschullehrende zur Theorie und Praxis des Fernstudiums und der Fernlehre.

Das Fortbildungsseminar wurde in einer Vermittlungsform angeboten, die sich exemplarisch unmittelbar selbst auch auf den Inhalt des Seminars beziehen ließ. Das Internet und das World Wide Web drängen sich inzwischen als neue Medien zur Vermittlung von Fernlehre geradezu auf. Unter Verwendung einer frei zugänglichen, einfach strukturierten Konferenzsoftware, HyperNews, sollte in unserem Experiment des "virtuellen" Seminars die Kommunikation unter den Teilnehmenden aus aller Welt zweckdienlich befördert werden. In dieser "virtuellen", für das (Fern-)Studium und die Weiterbildung höchst interessanten und aussichtsreichen neuen Seminarform, konnten Theorie und Praxis des Fernstudiums und der Fernlehre selbst zum Seminarthema gemacht werden.

EUGENE RUBIN (Leiter der Abteilung für Unterrichtstechnologie des University of Maryland University College,siehe unter http://www.umuc.edu/~erubin/resume.html) und ULRICH BERNATH (Leiter des Fernstudienzentrums der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, siehe unter: http://www.uni-oldenburg.de/zef/bernath.html), entwickelten, leiteten und moderierten das Seminar in enger Abstimmung von ihren jeweiligen Arbeitsplätzen in den USA und in Deutschland aus. Beide verfügen über langjährige Erfahrungen in der Entwicklung und Durchführung von Fernstudien. Sie haben über Theorien und Modelle des Fernstudiums gelehrt und Programme der Weiterbildung für Fernstudienpraktiker entwickelt und durchgeführt. Sie konnten zudem an Erfahrungen vorausgegangener Zusammenarbeit anknüpfen. Mit der speziellen Form des Web-basierten, "virtuellen" Seminars hatte allerdings keiner der Beteiligten bereits ausgefeilte Erfahrungen gemacht. Alle begaben sich in eine neue Lehr- und Lernumgebung.

Der Zuschuß der AT&T Stiftung eröffnete Wege zu einer umfangreichen Evaluation des Experiments. Als externer Beobachter nahm HELMUT FRITSCH vom Zentralen Institut für Fernstudienforschung der FernUniversität Hagen teil. Er stellt seine Evaluationsergebnisse in dem nachfolgenden Bericht vor. Die vollständige Dokumentation des Seminarverlaufs und die Ergebnisse der Evaluation werden mit dem Ende der Projektlaufzeit im Dezember 1997 veröffentlicht.

Nach der erfolgreichen Erprobung und gründlichen Auswertung des ersten Seminardurchlaufs konnte im Herbst 1997 eine überarbeitete Version des zehnwöchigen "virtuellen" Fortbildungsseminars für die Zeit von Januar bis März 1998 mit Erfolg ausgeschrieben werden. (siehe: http://www.umuc.edu/ide/seminar/apply.html).


2. Die Ziele des virtuellen Seminars

Das übergeordnete Ziel unseres Seminarangebotes war es, dem rasch wachsenden und drängenden Bedürfnis nach qualifizierter Fortbildung in grundlegenden und anwendungs-orientierten, international vergleichenden Aspekten des Fernstudiums und der Fernlehre auf einem qualitativ hohen Niveau und in attraktiver Vermittlungsform zu begegnen.

Wir wollten ein Fortbildungsangebot unterbreiten, das in die von Überlastung gekennzeichnete Arbeitssituation innovativer und fortbildungswilliger Kolleginnen und Kollegen paßt. Es sollte sich durch Qualität und Relevanz auszeichnen und die Motivation über einen längeren Zeitraum wach halten. Das Programm des "virtuellen" Seminars sollte über kulturelle Grenzen hinweg kommunizierbar und anwendbar sein. Es sollte nicht diskriminierend und mußte deshalb auch kostengünstig sein.

Die inhaltliche Gliederung des Seminarkonzeptes war zweigeteilt. Zum einen sollten grundlegende Aspekte des Fernstudiums und der Fernlehre vermittelt und zum anderen Anwendungs- bzw. Umsetzungsaspekte unter verschiedenen Handlungsbedingungen behandelt werden.

Das Seminar ging über 10 Wochen. Vier herausragende Experten des jeweiligen Fachgebietes wurden als Dozenten am Seminar beteiligt:

Woche 1: "Introduction to Distance Education"
Woche 2: "Foundations of Distance Education" mit Prof. Dr. Börje Holmberg (Lund/Schweden) auf der Basis seines Aufsatzes "The Evolution of the Character and Practice of Distance Education", in Open Learning, June 1995, pg 47 - 53
Woche 3: "Institutional Models of Distance Education" mit Dr. Gary E. Miller (State College,PA/USA) auf der Basis seines Aufsatzes "Distance Education in the United States: Collaboration amid Diversity", in Open Learning, November 1987, pg. 23 -27
Woche 4: "Theories in Distance Education" mit Prof. Dr. Otto Peters (Hagen/Deutschland) auf der Basis seines Aufsatzes "Distance Education and Industrial Production: A Comparative Interpretation in Outline, in: Keegan, Desmond (Ed.), Otto Peters on Distance Education: The Industrialization of Teaching and Learning. Routledge Studies in Distance Education, pg. 107 - 127.
Woche 5: "Technology in Distance Education" mit Dr. Anthony W. Bates (Vancouver/Kanada) und seinem Aufsatz "The Future of Learning", First Presented at the Minister’s Forum on Adult Learning, Edmonton, Alberta, November 30 - December 1st, 1995
Week 6: "Distance Education Applications"
Week 7: "Student Support"
Week 8: "Instructional Design"
Week 9: "Technology"
Week 10: "Summary and Conclusion"

Zu Beginn des Seminars gelangten die Teilnehmenden über die hier im Ausschnitt abgebildete WWW-Hauptseite unter Verwendung individueller Paßwörter in den "virtuellen" Seminarraum:

Wie aus der Abbildung ersichtlich, stehen seminarübergreifende Bereiche wie die seminarbegleitende Evaluation, Teilnehmerlisten, Kurzbiographien aller Beteiligten, ein einführender Text, der "Reader" und die archivierten wöchentlichen Diskussionsverläufe voran. Darunter wurden die 10 Seminarwochen einzeln zugänglich gemacht.


3. Der Verlauf des virtuellen Seminars

Im Verlaufe des zehnwöchigen Seminars wurden unterschiedliche Schwerpunkte gelegt:

Struktur und Ablauf des Seminars waren auch darauf angelegt, die Möglichkeiten des Internet, des WWW und der HyperNews Software zu erproben.

Der Rahmen für den Seminarprozeß wurde von den Seminarleitern gemeinsam gestaltet und nach vorheriger Abstimmung per E-mail und/oder Telefon unterschiedlich intensiv gesteuert. Darüberhinaus beteiligten sich beide Seminarleiter auch individuell als Diskussionsteilnehmer am Seminar.

Von größter Bedeutung im Hinblick auf die Ziele und die Bewertung des Seminars durch die Teilnehmenden war die direkte und jeweils über eine Woche währende, aktive Beteiligung von vier international anerkannten Experten. Auf der Grundlage ausgewählter und vorgegebener Texte entwickelte sich zwischen den Teilnehmenden und den Gastdozenten umfangreiche Dialoge und Diskussionsprozesse.

An Beispielen aus der zweiten Woche mit HOLMBERG und der vierten Woche mit PETERS soll hier ausschnittweise ein Einblick in die Diskussionsverläufe unseres "virtuellen" Seminars gegeben werden.

Das erste Beispiel (aus der 2. Woche mit HOLMBERG) steht für das spontane Herausbilden von "Diskussionsgruppen" bzw. "Baumstrukturen" im HyperNews-Format, die aus einem asynchronen Diskussionsprozeß heraus entstanden sind und sich schließlich als Gruppe auf einen thematischen Aspekt beziehen.

Das zweite Beispiel (ebenfalls aus der 2. Woche mit HOLMBERG) steht für einen Diskussionsverlauf, der der vorgegebenen thematischen Strukturierung durch die Seminarleiter folgt.

Das dritte Beipiel (aus der 4. Woche mit PETERS) enthält das Erscheinungsbild einer verästelten "Gruppen"-diskussion und das eines freien Dialoges zwischen Teilnehmenden und dem Dozenten.

In allen Fällen sind die ersichtlichen Beiträge gleichzeitig auch allen anderen Teilnehmenden zugänglich, deren unscheinbare "Aktivität" wesentlich auch darin besteht, dem Diskussionsverlauf zu folgen. FRITSCH spricht im folgenden Beitrag von "wittness learning", um die im Internet nicht "aktivierte" Beiträge der Teilnehmenden in ihrer positiven Bedeutung für das Gelingen des Seminars adäquat zu beschreiben.

HOLMBERG, MILLER, PETERS und BATES zeigten sich in der schriftlichen Form der Kommunikation als Meister ihres Faches. Sie sind dabei auf jeden einzelnen Teilnehmerbeitrag eingegangen und haben mit den Teilnehmenden, die zum Teil selbst ausgewiesene Fernstudienexperten sind, Diskussionsverläufe und Beiträge von bleibendem Wert geschaffen.

Die Teilnehmenden nutzten die Gelegenheit der direkten Auseinandersetzung mit den "Meistern". Ihre Beteiligung an dem Seminarprozeß übertraf den üblichen Umfang aktiver Teilnahme herkömmlicher Seminare bzw. Konferenzen. Aus der folgenden Tabelle läßt sich ersehen, welche - in Wörtern gemessen - quantitativen Anteile die am Seminar Beteiligten eingebracht haben. Die letzte Zeile der Tabelle zeigt auch, daß 50 % aller "aktivierten" im "virtuellen" Seminar von den Teilnehmenden kamen.

Tabelle: Instructor and Expert "Activity"

  Words   Week
Web-Administrator 278   1-10
Bernath/Rubin 7,328   1,6,10
Bernath/Rubin 6,240   2-5
Bernath/Rubin 2,718   7-9
Bernath/Rubin TOTAL   16,286 1-10
Bernath 4,050   1-5
Bernath 3,958   7-9
Bernath TOTAL   8,472 1-10
Rubin 2,369   1-5
Rubin 6,454   7-9
Rubin TOTAL   9,483 1-10
Holmberg 6,897   2
Miller 5,195   3
Peters 10,747   4
Bates 4,098   5
Total (Experts and Instructors)   61,178 1-10
Total (Participants)   66,324* 1-10

* = does not include projects in week 10 (approx. 10,000 words) and topic preferences in week 6 (approx. 2000 words.)

Ausdruck der Berufsbezogenheit und des differenzierten Interesses an der Übertragung des in den "Theoriewochen" erlangten Wissens in die Praxis des Fernstudiums und der Fernlehre gibt die nachfolgende Auflistung möglicher Projektthemen, die zu Beginn der 6. Woche aus Beiträgen der Teilnehmenden vorausgegangener Diskussionen von uns zusammengestellt wurden:


4. Vorläufige Schlußfolgerungen aus den Erfahrungen des virtuellen Seminars

Zu dem Erprobungscharakter des abgelaufenen virtuellen Seminars gehörte es, jeweils 15 Teilnehmende aus Deutschland und Maryland zur Mitwirkung an einem Evaluationsseminar verpflichtet zu haben. Für alle 40 Teilnehmenden fand im Juli 1997 eine zusätzlich angebotene, die "Seminar Revisited" 11. Woche, statt, um den bis dahin erreichten Stand der Begleituntersuchung und Auswertungen des Seminars allen zugänglich zu machen und vorläufige Evaluationsergebnisse auch unter den Beteiligten noch einmal diskutieren zu können.

Zu dem insgesamt positiven Gesamtergebnis des Seminarverlaufs stellte sich nun auch noch heraus, daß die Mehrzahl der Teilnehmenden ihre Seminarerfahrungen in ihrer unterschiedlichen Berufspraxis anwenden konnten.

Aus der Sicht der Seminarleiter lassen sich dem auch kritische Anmerkungen zum "virtuellen" Seminar hinzufügen, die hier angedeutet werden können. Dabei geht es uns um

Die bereits abgeschlossene externe Evaluation durch FRITSCH (siehe: http://www.fernuni-hagen.de/ZIFF/EVIRTXT.ZIP) und der in Vorbereitung befindliche Abschlußbericht der Projektleiter eröffnen den Weg zur Vertiefung.

Die Veranstalter des virtuellen Seminars gelangten in ihren "Preliminary Remarks (20 Theses/Hypotheses) on the Web-based Virtual Seminar" (in der 11. Seminarwoche am 3. Juli 1997) zu folgenden Schlußfolgerungen:

Ein virtuelles Seminar, vermittelt durch HyperNews im WWW, verlangt die Bereitschaft und viel Zeit zum Schreiben und Lesen. Das Geschriebene im asynchronen Diskussionsprozeß des virtuellen Seminars unterscheidet sich wesentlich vom simultanen, eher flüchtigen "Chat" und natürlich auch vom herkömmlichen Seminar mit der dominanten Kommunikationsform des Sprechens und Hörens. Das virtuelle Seminar hatte durch die Aussagekraft des Geschriebenen etwas Verbindliches und Bleibendes. PETERS charakterisierte das "virtuelle" Seminar als "knowledge building community".

Herkömmliche Seminare können es nicht zulassen, daß alle Teilnehmer gleichzeitig ihre Diskussionsbeiträge einbringen. Sie können es ebenfalls nicht leisten, daß allen Beiträgen eine Erwiderung zuteil wird. Die Aufnahmefähigkeit für mehrere aneinandergreihte, gesprochene Beiträge ist sehr beschränkt. Anders sieht es mit der Verarbeitungskapazität bei schriftlichen Beiträgen aus. Unsere Erfahrung läßt uns sogar hoffen, daß "virtuelle" Seminare im WWW zu einer Renaissance des Kommunizierens durch Schreiben beitragen können, und unabhängig von Zeit und Raum neue und erweiterte Zugänge zu akademischen Diskursen und Dialogen, zu Bildungs- und Fortbildungsmöglichkeiten eröffnet werden.

Diese positiven Leistungen eines "virtuellen" Seminars entfalten sich wahrscheinlich eher bei stark inhaltlich interessierten und am Wissenszuwachs orientierten Teilnehmenden. Der Diskussionsprozeß im "virtuellen Seminarraum" bedarf der Führung bzw. Moderation, um die Möglichkeiten der Kommunikation und Interaktion auszuschöpfen und vor allem Beiträge aus dem Nebel des virtuellen Seminarraumes an die Oberfläche des Bildschirmes zu holen , damit sie als aktive Beiträge ersichtlich werden. Diese besondere, technisch bedingte Herausforderung an den Interaktionsprozeß schließt das Nachdenken und Suchen von Verfahren ein, das "virtuelle" Seminar auch emotional aufzuladen. "Get in touch with colleagues" ist ein wichtiges Kriterium für den Erfolg von beruflichen Fortbildungsprozessen.

Zur Überzeugung der Veranstalter gehört auch die Auffassung, daß ein "virtuelles" Seminar im WWW mit realen Begegnungen kombiniert werden sollte. Interaktive Videokonferenzen können eventuell auch eine sinnvolle Ergänzung "virtueller" Seminare sein.

Unser Fortbildungsseminar war über das Internet weltweit zugänglich. Die vermittelten Fortbildungsinhalte waren über kulturelle Grenzen hinweg für die unterschiedliche Praxis des Fernstudiums und teilweise auch für die allgemeine Reform der Hochschullehre und der Weiterbildung übertragbar. Die aufwendigen Entwicklungsarbeiten und Begleituntersuchungen für das virtuelle Seminar haben zur dauerhaften Einrichtung des Seminarangebotes beigetragen und innerhalb kürzester Zeit die Übertragung der Erfahrungen auf eine ganze Reihe anderer Maßnahmen befördert.

Bei weitergehendem Interesse wenden Sie sich bitte an: Ulrich Bernath oder an meinen Kollegen Eugene Rubin.