(Carl von Ossieztky Universität, FB 11, Niederlandistik, Wintersemester 1992/1993, in Zusammenarbeit mit dem Fernstudienzentrum und der niederländischen Open Universiteit)
Auslandserfahrung, grenzenüberschreitendes Studieren, Vernetzung der Hochschulen, Fremdsprachenkenntnisse, offener Fernunterricht. Dies sind Schlagwörter aus der aktuellen und intensiven Diskussion über die Gestaltung der Hochschulbildung im vereinigten Europa. Die Bedeutung des Fernstudiums für die Europäische Gemeinschaft wird vielerseits anerkannt. Das umfangreiche und gleichzeitig flexible Bildungs- und Ausbildungsangebot der großen europäischen Fernuniversitäten in Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden und Spanien bietet sich für eine Internationalisierung des Hochschulstudiums wirklich an. Um den Anknüpfungspunkt für das Erprobungsmodell zu zeigen, möchte ich das EG-Memorandum zur Hochschulbildung in der Europäischen Gemeinschaft zitieren. Hier heißt es:
"Eine stärkere Integration des Fernunterrichts in die Gesamtstruktur der Bildung scheint für die künftige Entwicklung unabdingbar zu sein. Die Studenten sollen sowohl das Fern- als auch das Präsenzstudium abwechselnd nutzen dürfen, und die durch Fernunterricht erworbenen Qualifikationen sollten denselben Status haben und dieselbe Anerkennung erhalten, wie die durch entsprechende Studiengänge an Präsenzuniversitäten erworbenen Qualifikationen. Der Fernunterricht sollte als Ergänzung der herkömmlichen Hochschulbildung (...) betrachtet werden, die es den Studenten ermöglicht, den Anforderungen kommender Jahrzehnte gerecht zu werden."
Doch ist dieser Zustand Ideal und nicht Praxis. Die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen dafür müssen noch geschaffen werden. Etwas lapidar heißt es in dem Memorandum zur Hochschulbildung in der Europäischen Gemeinschaft dazu, daß "Erfahrungsaustausch bei der noch fehlenden Standardisierung wertvolle Informationen liefern kann." Und gerade hier sollte das Erprobungsmodell "Europäisch Studieren" im Fach Niederlandistik dazu beitragen, durch Entwicklung von Übertragungskonzepten eine noch vorhandene Lücke an Erfahrungen und Informationen zu schließen. Das Erprobungsmodell soll als exemplarisches Ergebnis begleitet und evaluiert werden. Auf diese Weise können die Möglichkeiten für Integrationsmodelle europäischer Fernstudienangebote in das Präsenzstudium deutscher Hochschulen im allgemeinen erkundet werden.
Es handelt sich um Einbeziehung von Fernstudienelementen in einen Präsenzstudiengang. Welche Vorteile ergeben sich daraus, oder, anders gesagt, welche besonderen Lernziele können damit verfolgt werden? Hier möchte ich drei Ebenen unterscheiden, eine sprachliche, eine lernstrategische und eine inhaltliche Ebene.
Zuerst die sprachliche Ebene. Die Studienmaterialien der Open Universiteit sind zum größten Teil auf niederländisch und bilden damit einen Fundus an authentischen fremdsprachlichen Texten. Dies gilt mutatis mutandis auch für das Kursangebot der anderen europäischen Fernuniversitäten. Im Erprobungsmodell werden die Studenten denn auch durch Lektüre, aber auch durch Kontakte mit niederländischsprachigen Betreuern und kurze Aufenthalte in den Niederlanden in die Lage versetzt, ihre Fremdsprachenkenntnisse zu vertiefen. Vor allem die Studenten die bereits über Grundkenntnisse verfügen und sich kurz vor der Zwischenprüfung befinden, bekommen jetzt die Möglichkeit, durch wiederholte und intensive Lektüre die erforderliche Routine und Schnelligkeit zu erwerben. Es wird also mit fremdsprachlichen Kursmaterialien gearbeitet. Aber auch während der Lernstofftage, während der Exkursion und während des Praktikums ist die Verkehrsprache Niederländisch.
Zweitens die lernstrategische Ebene. Die Studenten werden mit einer anderen Art zu studieren vertraut gemacht, nämlich mit dem begleiteten Selbststudium der niederländischen Open universiteit. Die Kursinhalte sind, wie üblich bei offenen Fernuniversitäten, in Modulen gegliedert, die auf spezielle Lernerfolge abzielen. Hier ligt ein Mittel, bei den Studenten ein größeres Verantwortungsbewußtsein für ihre eigenen Lernschritte zu wecken und ihre Selbständigkeit anzuregen. Die Bewußtmachung der eigenen Lernstrategien und die Auseinandersetzung mit den didaktischen Prinzipien des offenen Fernunterrichts soll die Projektteilnehmer gleichzeitig vorbereiten auf einen sogenannten "life long learning process", das bedeutet: die Kursteilnehmer sollen durch das begleitete Selbststudium sowie durch Kontakte mit Mentoren und Kommilitonen der Open universiteit Kenntnisse, Fertigkeiten und Haltungen gewinnen, mit denen sie auf spätere Lern- und Bildungsaufgaben in Studium und Beruf vorbereitet werden.
Drittens die fachinhaltliche Ebene. Denn schließlich geht es darum, fachwissenschaftlich orientierte Kenntnisse zu vermitteln. Im allgemeinen gilt, daß die Open universiteit für Studierende, die es in ihrem Studium mit den Niederlanden zu tun haben, viele Bereicherungsmöglichkeiten bietet. Im Falle des Erprobungsprojektes haben wir uns entschieden für den sogenannten Orientierungskursus Kulturwissenschaften, der oriëntatiecursus cultuurwetenschappen, Twee culturen: de Republiek en Java. Aus verschiedenen Gründen eignet sich dieser Kursus der Open universiteit besonders gut für eine Integration in das herkömmliche Niederlandistikstudium. Erstens bietet er einführendes Wissen und ist somit geeignet für einen Einsatz im Grundstudium. Zweitens ist der Kurs ein Beispiel für eine thematische Einführung, von denen es im Kursangebot der Open universiteit übrigens noch mehr schöne Beispiele gibt: ein - man könnte sagen - landeskundliches Thema, nämlich die Beziehungen zwischen den Niederlanden und der indonesischen Insel Java im 17. und 18. Jahrhundert wird aus der Sicht verschiedener Kulturwissenschaften beleuchtet. Es werden wissenschaftliche Grundbegriffe aus verschiedenen Disziplinen eingeführt, u.a. der Ethnologie, der Geschichte, der Religionswissenschaft, der Kunstgeschichte sowie der Literaturwissenschaft. Die Betrachtungsweise, die dem Stoff zugrunde liegt, ist multi- und interdisziplinär, der dahinterliegende Kulturbegriff ist breit und soll zu einer wissenschaftlichen Haltung erziehen. Eben aufgrund dieser Charakteristiken bildet der Orientierungskursus Kulturwissenschaften eine attraktive Bereicherung des von sich aus eher sprach- und literaturwissenschaftlich orientierten Niederlandistikstudiums. Der Kurs ist anzusiedeln im Prüfungsgebiet Landeskunde, weil Kenntnisse über die niederländische Kultur und Geschichte vermittelt werden.
Die Integration dieses Kursangebotes der Open universiteit in das Niederlandistikstudium geht allerdings weiter als der Einsatz der Materialien. Anders gesagt: es werden nicht nur Studienmaterialien bezogen, sondern auch andere Dienstleistungen in Anspruch genommen. Die Grenzlage der Oldenburger Universität erweist sich hier als vorteilhaft, denn von den 18 regional orientierten Studienzentren, über die die Open universiteit in den Niederlanden verfügt, befinden sich 2 in unmittelbarer Nähe, nämlich das Studiecentrum Emmen sowie das Studiecentrum Groningen. Ohne großen zusätzlichen Aufwand kann also auf die bereits existierende Infrastruktur auf niederländischer Seite zurückgegriffen werden. Die Begleitung und Betreuung, Lernstofftage und ein Museumspraktikum können ohne weiteres im europäischen Nachbarland durchgeführt werden.
Schließlich soll die Integration in dem Erprobungsmodell so weit gehen, daß die Studierenden die Chance bekommen, die Prüfung der Open universiteit abzulegen. Die bestandene Prüfung wird als Studienleistung auf das ordnungsgemäße Niederlandistikstudium in Oldenburg angerechnet. Die Vernetzung beinhaltet also auch die grenzüberschreitende Anerkennung der Studienleistung.
Wenn soviele Aufgaben von der Open universiteit übernommen werden, kann man sich fragen, welche Aufgaben für den Oldenburger Lehrenden übrigbleiben, unter dessen Verantwortung die Lehrveranstaltung stattfindet. Tatsächlich wird er sich in gewisser Hinsicht zurückhalten müssen. Wir sollen nicht vergessen, daß die Kursmaterialien auf das Selbststudium ausgerichtet sind. Die Texte sind so verfaßt, daß der Studierende sie selbständig durcharbeiten kann. Für inhaltliche Fragen kann, aber muß man nicht auf die Mentoren zurückgreifen. Hier liegt ein grundlegender Unterschied zu dem Präsenzstudium, in dem der Kenntniszuwachs in der Regel auch durch Kontaktunterricht erfolgt, zum Beispiel während Diskussionen im Seminar, wo eine Verarbeitung der vorherigen Lektüre stattfindet. Beim Einsatz von Fernunterrichtsmaterialien im Präsenzstudium wird nicht ein allwöchentlich stattfindendes Seminar den Rhytmus des Unterrichts bestimmen. Auf dem ersten Blick also eine Arbeitserleichterung. Von einer Entlastung des Dozenten kann aber erst die Rede sein, wenn derartige Verknüpfungen von Fernstudium und Präsenzstudium zu einem Routinegeschäft geworden sind, quod non. Die Rolle des Hochschullehrers verlagert sich auf andersartige didaktische und konzeptuelle Aufgaben. Er - oder sie - muß die Kursmaterialien der kooperierenden Fernuniversität auf Qualität und Brauchbarkeit sichten; er muß Konzepte und Modelle für Zusammenarbeit und Integration entwerfen; er muß in Absprache mit den Mitarbeitern des zuständigen Studienzentrums die Kontaktmomente planen, organisieren und durchführen: er muß die Studierende über die neue Studiermöglichkeit informieren: er kann sprachliche Hilfe leisten, wenn er mit der Fremdsprache vertraut ist, oder inhaltliche Hilfe, wenn auch der Kursinhalt zu seiner Kompetenz gehört. Zu den Aufgaben des Hochschuldozenten gehört auch das Entwickeln und Erproben von geeigneten Prüfungs- und Evaluierungsmethoden. Nicht vergessen werden sollte auch eine zusätzliche motivierende Unterstützung, etwa durch Stoffabende und Diskussionsrunden.
Der Zeitplan der Veranstaltung gibt einen Eindruck von dem konkreten Ablauf des Projektes:
21.10.1992: Informationsveranstaltung in Oldenburg
Thema: Einführung in den Kurs
28.10.1992: Informationsveranstaltung in Oldenburg von Mentorin der Open universiteit
Thema: Studier- und Lesemethodik; Einführung Geschichtswissenschaft, Einführung Quellenauswertung
18.11.1992 (Buß- und Bettag): Lernstofftag im Studienzentrum Groningen
Themen u.a.: Einführung in die niederländische Open universiteit; Ethnologie, die Republik der Vereinten Niederlande, Java, die Vereinigte Ostindische Handelscompagnie 1600-1800
16.12.1992: Begleitungstreffen in Oldenburg, abends: Diavortrag
Themen u.a.: Religion, das Heilige und Sinngebung in der Kultur, der Islam, das religiöse Leben in der republik, wirtschaftliche Geschichte der Republik, Handel und Gewerbe in der Republik, Malerei des 17. Jahrhunderts, Archiktektur, das Amsterdamer Rathaus, Javanische Kunst und Kultur, die VOC und das asiatische Handelssystem
09.01.1993: Studienbegleitung in Groningen, Museumspraktikum
Themen u.a.: Schiffahrt, die Kolonialstadt Batavia
03.02.1993: Lernstofftag in Groningen
Themen u.a.: Literatur und Theater im Amsterdam des 17. Jahrhunderts, Hugo Grotius, das Weltbild, Kunst und Gewerbe in Delft, Politik als Spiel: der Theaterstaat auf Bali, Ethnologie und Geschichte
17.02.1993: Abschließende Sitzung in Oldenburg
Themen: Huizingas Nederlandse beschaving in de 17de eeuw, der Charakter kulturwissenschaftlicher Kenntnisse
20.-21.02.1993: Exkursion nach Amsterdam und Delft
04.03.1993: prüfung, nach vorherigem Prüfungstraining
Die Sitzungen finden mal in Oldenburg, mal in Groningen statt. Der Monat Oktober ist die Phase, in der die Studierenden über die Hintergründe, die Zielsetzungen sowie über den Inhalt des Projektes informiert werden. Am Buß- und Bettag, in den Niederlanden ein normaler Arbeitstag, findet bereits ein Lernstofftag statt. Dies ist auch der Fall im Monat Dezember. Die Lektüre der Kurseinheiten führt durch ebenso interessante wie vielseitige Themenbereiche, die sich nach Ansicht der Niederlandistik besonders eignen für ein einführendes landeskundliches Seminar. Wichtig ist hierbei auch die wissenschaftsphilosophische Schwerpunktsetzung des Kurses. Im Januar findet in Groningen ein Museumspraktikum statt, in dem der Stoff anhand praktischer Aufgaben vertieft wird. Im Januar und Februar 1993 finden noch weitere Sitzungen statt, in denen die Lektüre der Kurseinheiten unter Anleitung einer Mentorin der Open universiteit besprochen wird. Schließlich finden eine kurze Exkursion sowie die Prüfung statt. Weil die Prüfung multiple-choice-Fragen enthält, wird ein vorbereitendes Prüfungstraining angeboten.
Dieses Erprobungsmodell hat im Oktober 1992 angefangen. Es ist ein kleiner Anfang. Dennoch sollen die Hintergründe und Zusammenhänge nicht aus dem Auge verloren werden. Dies soll nicht eine einmalige Sache bleiben, und sich auch nicht auf den Studiengang Niederlandistik beschränken. Mit dem Projekt könnten sich vielleicht neuartige hochschuldidaktische Perspektiven eröffnen.
Es wäre zunächst denkbar, daß der Orientierungskursus Kulturwissenschaften ein in regelmäßigen Abständen wiederholter Teil des Oldenburger Niederlandistikangebots wird. Dann hätten die Studierenden die Möglichkeit, im Rahmen einer dauerhaften Kooperation des Faches mit der Open universiteit eine europäische Komponente in ihr Studium zu integrieren. Es sollte geprüft werden, in wiefern sich auch andere Kursangebote der Open universiteit für eine Integration in das herkömmliche Niederlandistikstudium eignen.
Aber auch andere Fächer und Studiengänge, nicht nur die Niederlandisten, könnten von der Open universiteit profitieren. In einigen Fächern ist bereits ein inhaltlicher Bezug zu den Niederlanden vorhanden. Warum sollte zum Beispiel eine Meeresbiologin, derer Schwerpunkt die Umweltprobleme des Wattenmeeres sind, nicht die Möglichkeit haben, einen niederländischen Kursus über das niederländische Umweltrecht in ihr Studium zu integrieren? Oder könnte ein Sozialpädagoge, dessen Interesse der Minderheitenpolitik gilt, sich nicht mittels eines Kurses der Open universiteit informieren über die Art und Weise, wie man im westlichen Nachbarland mit Minderheiten umgeht? Auf der Basis des umfangreichen Bildungs- und Weiterbildungsangebots der Open universiteit wären solche Bereicherungen des Lehrangebots durchaus möglich. Denkbar wäre also eine Reihe von bilateralen Kooperationen zwischen einzelnen Fächern an deutschen Hochschulen und Bildungseinrichtungen einerseits und der Open universiteit andererseits, bei denen das gemeinsame Merkmal eine europäische Dimension durch Integration von Fernunterrichtsmaterialien wäre.
Selbstverständlich sind Kenntnisse der Fremdsprache dafür eine Voraussetzung. Hier liegt eine Aufgabe für die schulische, außerschulische und universitäte Sprachenausbildung, Interessierte innerhalb nicht zu langer Zeit mit der niederländischen Wissenschaftssprache vertraut zu machen. Daß dies keine Utopie ist, zeigt der Kursus "Niederländisch für Hörer aller Fächer", der an dieser Universität eine gewisse Tradition hat.
Die Erfahrungen und Einsichten, die aus diesem exemplarisch gedachten Erprobungsmodell gewonnen werden, könnten also weiterreichende Anwendungen finden, auch wenn es darum geht, Kooperationen mit anderen europäischen offenen Fernuniversitäten zu initiieren. Die Bemühungen gehen auch dahin, solche Vernetzungen in das ERASMUS-Förderprogramm zu integrieren, so daß die Studierenden nicht nur durch Mobilität, sondern auch durch Fernstudium ihr Studium europäisieren können. Das sind alles großartige Perspektiven. Aber man muß nun mal irgendwo anfangen.
So gesehen ist das Erprobungsmodell "Europäisch Studieren", das zur Zeit in Zusammenarbeit mit der Open universiteit durchgeführt wird, nicht nur eine Bereicherung der Oldenburger Niederlandistik, sondern hoffentlich auch Keimzelle für weitere Europäisierungstendenzen im Hochschulbetrieb.
(leicht geänderte Fassung eines Vortrages, der im Rahmen der 2. Europawoche der Hochschulen in Oldenburg am 13.10.1992 gehalten wurde)
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